Visionen eines Kontroll- und Streifenbeamten

Politiker und andere wichtige Leute – oder solche, die sich dafür halten – haben manchmal Visionen. Zu den Visionen von Willy Brandt soll sich Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt folgendermaßen geäußert haben: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Seit Beginn der Umorganisation hört und liest man – vornehmlich im Intranet – auch in der Bundespolizei allenthalben von der Vision unseres Präsidenten in Potsdam. Überall werden Besprechungen, Tagungen und andere Veranstaltungen genutzt, um die Vision zu verbreiten und darüber zu informieren. Bei allen ziel- und zukunftsorientierten Vorstellungen stellt Zeitstress nur ein PhänomenStress dar. Dem gilt es entgegenzuwirken 

Und auf Führungsebenen werden Arbeitskreise oder Workshops gebildet, um in Gruppenarbeit zu diskutieren und zu beraten, wie man diese Vision umsetzt. Strategische und operative Ziele und Zielfelder werden festgelegt. Es werden Kennzahlen verfasst und über Maßnahmen entschieden, wie man diese Vision erreicht. In Zielvereinbarungen sollen die Inspektionsleiter festlegen, wie das „Masterziel“: „Steigerung der Aufgriffszahlen und der Effizienz“ erreicht werden kann. Dabei lässt man sich immer wieder was Neues – manchmal auch etwas Altes – einfallen, um MICH noch effizienter zu machen. Und immer wieder wird betont, dass der Schutzmann auf der Straße, also insbesondere ICH, Kontroll- und Streifenbeamter, kurz KSB genannt, ein wichtiger Teil unserer Bundespolizei ist; – wenn nicht sogar der Wichtigste.  

Neulich hatte unser Personalrat zur Personalversammlung eingeladen. Natürlich bin ich trotz meines Dienstfrei hingegangen. Der Herr Präsident unserer Direktion war auch eingeladen und nutzte nach seinen Grußworten die Gelegenheit, um noch weitere Informationen an den Mann und die Frau bringen. Er berichtete über den Stand der Umorganisation und darüber, wie sich die Bundespolizei durch Risikoanalysen für Schwerpunktbereiche, kriminalitätsbelastungsorientierte Steuerung der Ermittlungsdienste (KSE) und andere Maßnahmen für die Zukunft rüstet. Außerdem wären auch neue, noch stärker am Bedarf orientierte Schichtdienstmodelle notwendig, damit wir unseren Aufgaben ziel- und zukunftsorientiert nachkommen können. „Aha, Nachtigall …“, dachte ich gleich.Neue Dienstpläne. Orientiert am Bedarf der Dienststelle; um mich möglichst flexibel einsetzen zu können… 

Und was ist mit meiner persönlichen Planung? Also, bei mir steht die Familie (Ehefrau, drei Kinder, Oma – Pflegestufe 2) immer noch an erster Stelle. Wir haben uns einigermaßen mit meinem Schichtdienst arrangiert und alles ist „ziel- und zukunftsorientiert“ geplant. 

Dann hat der Herr Präsident uns noch seine Vision „Präsenz 66+“ vorgestellt. Nein, wir sollen nicht bis zum 66. Lebensjahr arbeiten gehen. Aber wir, die Kontroll- und Streifenbeamtinnen und -beamten, sollen unserem Namen auch gerecht werden. Also kontrollieren und streifen, wie der Name schon sagt. Und dazu sollen wir möglichst über 66% unserer täglichen/wöchentlichen Arbeitszeit auf der Straße/Schiene verbringen. „Tolle Aussichten, ach nein, Visionen“, dachte ich. Danach durfte auch unser Inspektionsleiter uns „begrüßen“. Er fand die Sache mit „Präsenz 66+“ auch ganz toll, denn dann können wir ja noch mehr streifen, mehr kontrollieren und auch noch mehr aufgreifen. Er hat aber auch eine eigene Vision, die er uns gleich mitgeteilt hat: Da unsere Inspektion tausende, nein zigtausende Vorgänge der Leistungserschleichung von der DB erhält und wir kaum Personal haben, um diese zu bearbeiten, hat er einen eigenen „Masterplan“ entwickelt, um die Aktenberge abzuarbeiten. Die KSB sollen im Nachtdienst in den „ruhigen“ Zeiten nach Mitternacht verstärkt die Leistungserschleichungen (EvL) bearbeiten. Diese Zeit würde sich geradezu anbieten, da dann ja eh’ nicht viel los ist. Aha, fragte ich mich gleich, wie kann ich jetzt noch auf meine „Präsenz 66+“ kommen? – Und da ich es nicht wusste, habe ich mal gleich nachgefragt.  

Zuerst haben sich mein Inspektionsleiter und der Präsident fragend angeblickt. Vielleicht weil sie nicht wussten, wer antworten sollte, aber ich glaube, sie waren etwas verblüfft von meiner Frage und mussten erst mal kurz überlegen. Die Antwort war dann auch ganz eindeutig: „Jaaa, alsoooo, da muss man dann Prioritäten setzen und immer im Einzelfall individuell und zielorientiert entscheiden, was sich anbietet und was gemacht werden soll. Aber da bräuchte ICH mir keine Gedanken machen, das würde dann mein DGL für mich entscheiden.“ Und weil ich gerade am fragen war und der Herr Präsident die bedarfsorientierten Schichtmodelle angesprochen hatte, traute ich mich ihm die Frage zu stellen, ob unser 12- Stunden-Dienstplan, von dem alle Mitarbeiter, sogar unser Inspektionsleiter, begeistert sind, bedarfsorientiert verändert werden muss? – „Nein“, antwortete er, „er findet es gut, wenn die Kolleginnen und Kollegen im Wechselschichtdienst motiviert sind und hinter ihrem Dienstplan stehen.  Die 12-Stunden-Schichten sind für ihn absolut konform mit den EU-Richtlinien, der Arbeitszeitverordnung und was es da noch alles so gibt. Deshalb besteht kein Veränderungsbedarf.“ Toll dachte ich, Hauptsache alles KONFORM. Und der Personalrat hat es gleich – natürlich zielorientiert – ins Protokoll aufgenommen. Mancher vergisst schnell oder will es nicht gesagt haben… 

Am anderen Tag hatte ich Nachtdienst. Der Nachtdienst beginnt um 18.00 Uhr und endet um 6.00 Uhr, dauert also genau zwölf Stunden. Als mein DGL zu Beginn der Schicht die EvL-Vorgänge an uns verteilte, wusste ich, dass heute Nacht die Entscheidung über „Präsenz 66 Plus oder Minus“ fällt. Um 0.00 Uhr Mitternacht entschied  dann mein DGL, dass es draußen ruhig ist und wir mit der Bearbeitung der EvL beginnen können. Wir remonstrierten pflichtgemäß, dass wir „66 Plus“ noch nicht erreicht haben, aber er ließ sich nicht überreden. Vielmehr versuchte er uns das Ganze dadurch schmackhaft zu machen, indem er für denjenigen, welcher am Jahresende die meisten EvL Vorgänge abgearbeitet hat, eine Leistungsprämie in Aussicht stellte. Dieses Argument hat dann auch ALLE überzeugt.  

Nachdem es mir nach mehreren Versuchen und einer halben Stunde des Wartens gelungen war, den PC (CITRIX) hochzufahren, begann ich die EvL-Vorgänge (zielorientiert) zu bearbeiten. Dabei musste ich auch einen Kollegen der Landespolizei anrufen, um fünf EMA Abfragen durchzuführen. Er hat mich gefragt, was bei uns denn los sei. Ich wäre schon der fünfte Kollege der Bundespolizei, der in dieser Nacht eine Anfrage hat. Als ich ihm die Sache erklärte, fragte er mich, ob unsere Vorgesetzte noch alle Tassen … (ihr wisst schon).

Ich solle bis zur Frühschicht warten, denn er hätte jetzt Besseres zu tun. Dann legte er auf. Und ich sah die Leistungsprämie schwinden. Was sollte ich tun? Also stöberte ich im BPOL-Intranet, denn da kann man alles erfahren, was sich bei der Bundespolizei so tut und wie toll alles läuft. Dann habe ich natürlich auch die GdPSeite angeklickt. Da habe ich dann gelesen, was nicht so toll ist und was nicht so läuft. Also Sachen kann man da erfahren. Von A wie Allgemeines bis Z wie Zugangsberechtigung für Mitglieder; – natürlich bin ich Mitglied. Zu vielen Themen findet man etwas. Und zu jedem, na ja fast jedem Thema, gibt es Kommentare von Kolleginnen und Kollegen. Positive und negative; – aber in den meisten Kommentaren kann man die Unzufriedenheit spüren. Daher finde ich es gut, dass meine GdP eine große Umfrage in Auftrag gibt, um noch in 2010 die Mitglieder in der Bundespolizei über ihre Zufriedenheit und andere wichtige Dinge zu befragen. Absolut zielorientiert finde ich! Und gespannt bin ich, was diese Umfrage zu Tage fördern wird… 

Und als ich so vor meinem PC saß (es war mittlerweile kurz vor 4.00 Uhr), hatte auch ich meine Visionen:   Mindestens zwei feste freie Wochenenden pro Monat, damit auch ich wie andere Familienväter mit meinen Kindern etwas unternehmen kann. 38,5 Stunden in der Woche wie früher, Ruhestand für Schichtdienstler ab 55 Jahre (mit Anrechnung der Schichtdienstjahre), Dienstpläne, die sich an meinem Bedarf orientieren, Anerkennung nicht nur in Worten zu Weihnachten (es darf auch mal eine Leistungsprämie oder ein Dienstfrei am Rosenmontag sein), eine eigene Körperschutzausstattung, damit ich nicht immer die verschwitzte KSA meines Vorgängers anziehen muss, Besetzung der 1800 freien DP, dann wäre auch ohne „Präsenz 66+“ genug Polizei auf der Straße/Schiene, endlich Beförderung zum PHM, weil ich trotz viermal Note 9 immer noch POM bin.  Danach ging es mir richtig gut! Und ich verstehe jetzt auch warum so viele Visionen haben. Weil die Realität manchmal nur schwer zu ertragen ist. Aber vielleicht werden ja auch meine Visionen irgendwann mal Realität werden. Apropos Realität: Da ich in der EvL-Bearbeitung nicht mehr weiter kam und erst sechs Stunden, also nur 50% Präsenz im Kontroll- und Streifendienst gezeigt hatte, wollte ich den Visionen meines Präsidenten nachkommen. Ich schnappte mir (natürlich zielorientiert) meine Kollegin, um bis 6.00 Uhr Präsenz zu zeigen. Wir kämen dann auf acht Stunden Kontroll- und Streifendienst und hätten mit 66,66% die Vision einer „Präsenz 66+“ weit über Maß erfüllt. Und ich werde meinem DGL vorschlagen, die Leistungsprämie an das Team mit der höchsten Präsenz zu vergeben.

Das fände ich absolut zielorientiert und visionär.  Aus dem Fremdwörterlexikon (ohne Kommentar): Vision, -en, w. (lat.):Phantasien, Traumbilder, Unwirklichkeiten, Täuschungen 

K. Vau  Quelle: Deutsche Polizei – Ausgabe März 2010-03-04

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